Wir sprechen nicht. Schweigend treten wir nebeneinander in die Pedale, legen Kilometer um Kilometer zurück, während links und rechts am Wegesrand Schilf wogt, kleine Seen blitzblau im Sonnenlicht auftauchen, Libellen in schillernden Türkistönen über dem Wasser zittern. Auf Außenstehende könnte es wirken, als hätten wir uns nichts zu sagen, meine Tochter Franzi und ich. Das Gegenteil ist der Fall: Wenn wir einmal im Jahr zu einer gemeinsamen, längeren Radtour aufbrechen, genießen wir das Zusammensein so sehr, dass wir uns auch ohne Worte blendend verstehen. So auch dieses Mal. Wir sind auf dem 680 Kilometer langen Fernradweg Berlin-Kopenhagen unterwegs. Sieben Tage haben wir als entspannte Genuss- und Freizeitradlerinnen für den deutschen Streckenabschnitt eingeplant, der von der Hauptstadt bis nach Warnemünde an der Ostsee führt. Doch erst einmal haben wir mit Gewässern ganz anderer Art zu tun.

„Guck mal“, ruft Franzi auf einmal in die Stille hinein. „Wie wär’s mit einer Badepause?“. Sie zeigt auf einen schmalen, grasigen Uferstreifen. Dahinter glitzert ein Teich. Döberstich heißt er, wie ich meiner Radtouren-App entnehme. Ein Stich ist eine Grube, in der früher einmal Tonerde abgebaut wurde und die sich danach mit Wasser gefüllt hat. Hier an der Brandenburger Havel – wir sind gerade zwischen den Dörfern Zehdenick und Mildenberg unterwegs – gibt es ziemlich viele solcher Stiche. „Klar gehen wir schwimmen“, antworte ich. Wir lehnen unsere Räder an eine Bank, kramen das Badezeug aus den Satteltaschen. Und springen hinein ins kühle Nass.

Heute ist erst Tag zwei unserer Tour. Doch eines können wir schon sagen: Dieser Radweg ist ganz nach unserem Geschmack. Er gilt als „grün-blau“, weil er meistens weitab von großen Straßen durch naturbelassene Landschaften führt. Und eben auch oft am Wasser entlang. Das sorgt für ein gewisses Frischegefühl – und für jede Menge Abkühlmöglichkeiten unterwegs.

Hauptstädtischer Start am Brandenburger Tor

Gut, vielleicht nicht gleich am Startpunkt am Brandenburger Tor in Berlin. Als wir uns dort frühmorgens in den Sattel schwangen, wimmelte es dort nur so von Radfahrern und Radfahrerinnen. Von allen Seiten sausten sie durch das Berliner Wahrzeichen hindurch – behelmte Anzugträger, Hauptstädterinnen in Birkenstocks, junge Väter mit Cargobikes. Schnell und zielbewusst, während im Hintergrund die Siegessäule golden funkelte. Mit unseren Satteltaschen und Funktionsoutfit fielen wir da ziemlich aus dem Rahmen. Doch wir genossen diesen quirligen, urbanen Start in unsere Tour übers Land.

Und nun Brandenburg. Nach einem Stopp am Schloss Oranienburg fahren wir über stille Alleen, durch idyllische Dörfer, in denen sich uralte Backsteinkirchen ducken, vorbei an Rapsfeldern von solch sattem Gelb, dass sie aussehen wie gemalt. Nicht weit hinter dem Döbertstich liegt der Ziegeleipark Mildenberg, heute ein Industriemuseum mit Erlebnispark. Wir radeln um die stillgelegten Ringöfen herum, die aussehen wie urzeitliche Behausungen, und picknicken am Havelufer. Mit dem Dessert warten wir bis zum Nachmittag. Denn da kommen wir durchs Örtchen Himmelpfort, in dem es eine richtige Chocolaterie gibt – und jede Menge feinste Pralinen, die man zum Glück auch stückweise erwerben kann.  Außerdem steht hier ein Weihnachtspostamt, in dem der Weihnachtsmann jedes Jahr die Briefe von tausenden Kindern empfängt. „Da ist ja gar niemand“, sagt Franzi, die durchs Fenster guckt, ein wenig enttäuscht. Wir einigen uns darauf, dass der Weihnachtsmann wahrscheinlich gerade um Urlaub ist. Schließlich haben wir erst Mai.

Fischbrötchen und jede Menge Harmonie

Meine Tochter glaubt natürlich schon lange nicht mehr an den Weihnachtsmann. Sie ist 24 Jahre alt und lebt längst ihr eigenes Leben, weit weg von zu Hause. Doch unsere gemeinsame Mutter-Tochter- Radtour im Sommer, die trägt sie jedes Jahr fest in ihren Kalender ein. Ich natürlich sowieso. Wir radeln gerne zusammen, weil man dabei in eine Art Flow gerät, der die stille Harmonie fördert. Aber wir schweigen natürlich nicht immer. Denn es lässt sich praktisch über alles reden, während man nebeneinander in die Pedale tritt. Erst recht, wenn es wie auf der 260 Kilometer langen Strecke durch Mecklenburg-Vorpommern gemütlich und ohne große Steigungen dahingeht und wir uns aufs Gespräch konzentrieren können.

Die Rollen und Aufgaben für unterwegs haben wir nach Fähigkeiten verteilt. Ich übernehme die Rechnungen, dafür bedient Franzi unterwegs Navi und Apps, verteilt Stärkungen und wird vor allem nicht nervös, wenn wir uns wieder mal verfahren. Wie zum Beispiel im hübschen Waren an der Müritz, wo wir einmal falsch abbiegen und in einen veritablen Mecklenburger Märchenwald aus himmelhoch aufragenden Kiefern geraten. Von den zusätzlichen Kilometern erholen wir uns später am Fischerhof Damerow. Hier lässt es sich herrlich mit Blick auf den Jabelschen See sitzen und ausruhen. Wir lassen uns köstliche Fischbrötchen schmecken, dick mit saftigem, geräuchertem Saibling belegt. Danach gucken wir noch in das kleine, hauseigene Museum. Hier kann man einiges zum Thema Fischfang in der Mecklenburgischen Seenplatte lernen. Zum Beispiel, dass die Müritzfischer hier mal einen zwei Meter langen Wels aus dem Wasser geholt haben. Das Raubtier mit dem furchterregenden Gebiss ist ausgestopft im Museum ausgestellt. Dann doch lieber ein geräucherter Saibling!

Und immer wieder zusammen ins Wasser

Auch im Jabelschen See erfrischen wir uns mit einer Runde Schwimmen. Dann radeln wir wieder ein Stück durch eine Landschaft, die sich zunehmend nordischer anfühlt. Duftende Nadelwälder wechseln sich mit wogenden Feldern ab. Und dieser Mecklenburger Himmel! Gewaltig und blau wölbt er sich über uns. Fast ein bisschen so, als würde sich darin bereits die Ostsee spiegeln. Die letzte Schwimmrunde des Tages genießen wir am Krakower See mit seinen waldigen Ufern und reetgedeckten Bootshäusern. So schön ist es hier, dass wir danach noch lange sitzen bleiben und ins bläuliche Abendlicht träumen, bevor wir die Räder in Krakows idyllische Altstadt schieben. Über holpriges Kopfsteinpflaster geht es an liebevoll renovierten Bürgerhäusern, an Alter Synagoge und Stadtkirche vorbei zum Hotel. Übernachten ist übrigens kinderleicht auf dieser Tour; es gibt jede Menge Hotels, Pensionen und Gasthäuser am Wegesrand, wobei Franzi und ich am liebsten in Bett + Bike Unterkünften schlafen. Die haben extra Fahrradparkplätze, Trockenräume für unsere Klamotten, Spezialwerkzeug für alle Fälle und ein reichhaltiges Radler-Frühstück.

Und es gibt Kultur unterwegs. Wie in Güstrow. Dort machen wir einen Abstecher zur gotischen Gertrudenkapelle. Hier sind einige der wichtigsten Plastiken des berühmtesten Sohns von Güstrow ausgestellt, des Bildhauers Ernst Barlach. Schweigend vertiefen wir uns in die Betrachtung der Skulpturen „Lesender Klosterschüler“, „Zweifler“ und „Pietà“, versenken uns in die menschlichen Gemütszustände, die Barlach aus Holz und Gips herausgearbeitet hat. 30 Jahre hat der Expressionist in Güstrow gelebt, wo er sich von der hiesigen Backsteingotik angeblich ebenso hat inspirieren lassen wie von der mecklenburgischen Landbevölkerung.

Überraschungen am Wegesrand

Die Menschen hier gefallen auch uns. „Sind die alle nett hier!“, schwärmte Franzi, als wir im Naturpark Nossentiner/Schwinzer Heide in der „Manufaktur Löwenzahn“ Besuch machten. Anja Bayler verkauft dort nicht nur selbstgemachte Sirups, Kräutertees und Fruchtessige, sondern servierte uns in ihrem romantischen Garten auch frisch gebackenen Hefezopf, den wir mit Anjas wunderbar säuerlich schmeckender Wildpflaumenmarmelade bestrichen. Ein paar Kilometer weiter kehren wir schon wieder ein, diesmal im „Gutshaus Linstow“, das Thorsten Dietzel und Franziska Hesse in ein lässig-schickes Urlaubsparadies mit viel zeitgenössischer Kunst umgewandelt haben, in das wir uns am liebsten gleich eingebucht hätten. Und auch das Kuchenbuffet hat es in sich …

Mit reichlich neuem Blutzucker in den Adern legen wir unsere Schlussetappe zurück. Erst nach Rostock, wo hoch aufragende Hafenkräne schon von der Ostsee künden. Dann die letzten Kilometer bis nach Warnemünde. Dort stehen wir auf der Westmole, lassen uns eine kräftige Meeresbrise um die Nase wehen und blicken sehnsuchtsvoll der Fähre nach, die eben in Richtung Dänemark davonrauscht. Nächstes Jahr sind auch wir an Bord. Und radeln weiter bis nach Kopenhagen.

Aber jetzt, mit Blick über die Weite des Meers, schweigen wir erst noch ein bisschen zusammen.

Copyright Titelbild: Viel Wasser, viel Grün, viel Entspannung: Pause auf dem Radweg Berlin-Kopenhagen © TMV / Tiemann

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