Beim Wandern auf dem berühmten Fernwanderweg in Thüringen dauert es eine Weile, bis man hört, dass man zur Abwechslung mal nicht viel hört. Außer den summenden Hummeln, den Wind in den Wipfeln und die eigenen Schritte. Eine leise, aber nicht stille Tour von Oberhof nach Allzunah.

So, da vorn halten wir an, dort, wo die Bäume etwas lichter stehen und die Sonnenstrahlen wie schmale Scheinwerferlichter bis zum Boden durchdringen: Das ist ein guter Platz für eine erste, kurze Rast. Vierzig, fünfzig Minuten sind seit dem Aufbruch in Oberhof vergangen, bis zum Etappenziel Allzunah dauert es noch ein paar Stunden, da kann man schon mal eine Pause einlegen. Die Schuhe etwas lockerer schnüren, den Sitz des Rucksacks korrigieren, einen Schluck aus der Wasserflasche nehmen, was man so macht bei der ersten Rast. Wie still es hier draußen ist! Die Straße ist nicht weit entfernt, vom Rauschen des Verkehrs aber hört man nichts mehr. Stattdessen veranstalten die Hummeln, die sich über die Kleeblüten hermachen, ein ziemliches Getöse. Und irgendwo in den Wipfeln über einem hämmert ein Buntspecht.

Der Rennsteig in Zahlen

Der traditionsreiche Thüringer Fernwanderweg ist insgesamt exakt 169,3 Kilometer lang. Er führt auf einer Höhe von 500 bis knapp 1.000 Metern von Hörschel bei Eisenach bis nach Blankenstein an der Saale und verläuft dabei weitgehend auf dem Kamm des Thüringer Waldes. Rund 100.000 Wanderer gehen ihn jedes Jahr. Ausgeschildert ist der Höhenweg mit einem weißen R. Die vom Verlauf des Wanderwegs teilweise abweichende Radstrecke ist mit einem grünen R markiert und kommt insgesamt auf rund 200 Kilometer.

Und so kommt ihr mit Bus und Bahn zum Rennsteig-Start in Hörschel: Anreise planen.

Wandern öffnet die Sinne

Wer öfter zu Fuß im Wald unterwegs ist, kennt das: Wandern öffnet die Sinne. Man läuft vor sich hin, Schritt für Schritt, Kilometer für Kilometer, und irgendwann merkt man, dass etwas anders ist. Die Stille fällt einem zuerst überhaupt nicht auf. Wir sind sie nicht mehr gewöhnt. Unsere Welt ist laut, immer und überall. Draußen dröhnen Autos auf den Straßen, drinnen plärren Radio, Netflix oder Nachbarkinder und das Smartphone piepst, bloinkt und zischt sowieso immer und überall. Selbst im angeblich stillen Zimmer ist immer irgendetwas, das im Hintergrund summt oder brummt. Wir haben uns so an die allgegenwärtigen Geräusche gewöhnt, dass wir sie oft überhaupt nicht mehr wahrnehmen: als seien sie völlig normal, als gehörten sie einfach dazu. Und dann sind wir allein auf einem Wanderweg wie dem Rennsteig und spüren plötzlich, dass irgendetwas anders ist. Und dass uns das guttut.

Wie der Wind in den Fichten klingt

Wenn man erst einmal bemerkt hat, wie sich die Welt anhört, wenn das Tosen der Welt plötzlich verstummt ist, eröffnet sich eine komplett neue Perspektive. Normalerweise läuft man ja als Augenmensch durch die Gegend und nimmt seine Umgebung in Bildern wahr – sobald man sich aber an das Erlauschen der Natur gewöhnt hat, ertappt man sich dabei, dass man immer öfter mit Luchsohren unterwegs ist. Manchmal hört man nichts als die eigenen Schritte. Ihr dumpfes Ploppen auf dem weichen Boden des Rennsteigs, das Klacken, wenn man über Steine läuft, ihr Schmatzen, wenn es zuvor geregnet hat und der Boden nun so matschig ist, dass sie für einen Augenblick festzukleben scheinen. Oder das Rascheln der Kleidung fällt einem auf, das Knirschen der Rucksackträger, das Klimpern des Kleingelds in der Hosentasche. Dann wieder wird es richtig laut, dann summen die Insekten um einen herum, man nimmt das Knacksen von Hölzchen und Stöckchen wahr, hört den Aufschlag eines Tannenzapfens am Waldboden und was der aufkommende Wind weiter oben mit den Fichten anstellt.

Panoramasicht vom Schneekopf

Auf einem Wanderweg wie dem Rennsteig funktioniert das alles deshalb so gut, weil man sich nicht wirklich auf den Weg konzentrieren muss. Zwischen Oberhof und Allzunah verläuft er über lange Passagen ohne große Steigungen, und weil er wunderbar gepflegt und superb ausgeschildert ist, muss man ihn eigentlich überhaupt nicht weiter beachten. Stattdessen setzt man einen Fuß vor den anderen, ganz schnell geht das Gehen automatisch, und wenn man nicht das Stimmengewirr der anderen Besucher im Ohr hätte, würde man möglicherweise den Abstecher hinauf zum Schneekopf verpassen. Sollte man aber nicht. Sollte man auf keinen Fall. Der zweithöchste Punkt Thüringens bietet ein Panorama zum Niederknien. Beziehungsweise: eine gute Möglichkeit, um oben vom Turm nach der Erdkrümmung Ausschau zu halten oder einfach nur eine Postkarte vom höchsten Briefkasten Thüringens zu versenden.

Den Vögeln beim Singen zuhören

Vier, fünf Minuten auf dem Rennsteig in den Wald hinein, und der Trubel ist weit weg. Fachleute nennen das hier übrigens einen Wollreitgras-Fichten-Bergwald. Fichten lassen anderen Bäumen nicht viel Raum, wo sie stehen, sind sie die Platzhirsche. Hier und da gibt es eine Tanne und ganz vereinzelt eine Buche, alles andere: sind tatsächlich Fichten. Und oben in den Ästen sitzen Erlenzeisige und Tannenmeisen (die trotz ihrer Namen offenbar nichts gegen Fichten haben), und das helle Flöten zwischendrin: Das ist eine Singdrossel, kann man alles nachlesen auf einer Tafel am Wegesrand. Die stehen überall am Rennsteig und erklären einem alles, was man schon immer wissen wollte oder auch nie im Sinn hatte, und wenn man eine Zeit lang keine Tafel gesehen hat, sollte man nachschauen, ob man sich nicht verlaufen hat. An der Alten Tränke zum Beispiel bekommt man erklärt, dass die Grafen von Henneberg hier im Mittelalter ihr Vieh weiden ließen und der Rastplatz auf der hellen Waldwiese am Großen Finsterberg deshalb bis heute so heißt. Der Wind streichelt sanft durch das Gras. Oben, viel weiter oben, wiegt er sanft die Fichten, als wolle er sie beruhigen, als flüstere er ihnen zu, dass alles gut werde, auch in Thüringen.

Der Weg ist das Ziel

Über den historischen Rennsteigbahnhof ist es von hier nicht mehr allzu weit nach Allzunah: ein Dutzend Häuser. Sie liegen da, als seien sie aus dem Wald hinunter in die Senke gepurzelt. Plus „Der Friseur am Rennsteig“, falls die Frisur unterwegs durcheinander gekommen ist. Für den Weg zurück nach Oberhof braucht man mit dem Auto keine halbe Stunde. Man fährt ununterbrochen durch Wald. Und hört doch nichts als die eigenen Motorengeräusche.

Titelbild: Abendstimmung am Rennsteig, unweit der Plänckners Aussicht © Christopher Schmid/Regionalverbund Thüringer Wald e. V.

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